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Geschrieben von: Administrator |
Leserbrief von mir veröffentlicht im Darmstädter Echo am 28. Januar 2023
Die Silvesterkrawalle in den Großstädten sind ohne Zweifel zu verurteilen. Wie immer sind die Schuldigen schnell ausgemacht und der Ruf nach Schnellgerichten wird wieder mal laut. Doch niemand will erkennen, dass dies eine Antwort auf eine völlig verfehlte Politik ist. Ein Beispiel: Mitte der neunziger Jahre wurde an der TU-Darmstadt ein Ergänzungsstudiengang eingerichtet, wo Lehrerinnen und Lehrer aus ganz Hessen im Rahmen eines viersemestrigen Studiums ein wissenschaftlich fundiertes Studium mit dem Schwerpunkt gesellschaftlich benachteiligte Jugendliche und Jugendliche mit Migrationshintergrund absolvieren konnten. Mit dem Abschluss durch Prüfung erwarben die Teilnehmer eine zertifizierte Lehrbefähigung. Um dieses Studium durchführen zu können, wurden die Teilnehmer mit acht Stunden wöchentlicher Unterrichtsbefreiung entlastet. Dieses Studium war bundesweit einmalig und ein Riesenerfolg. Lehrerinnen und Lehrer aus ganz Hessen haben dieses wichtige Studium absolviert. Dann kam nach einer Landtagswahl die CDU an die Regierung. Der o.g., Studiengang war da schon mal gar nicht im Sinne der Konservativen. Abschaffen konnte man den aus politischen Gründen nicht so schnell. So hat die CDU-Kultusministerin Karin Wolf aus Darmstadt sukzessive und für die Öffentlichkeit unbemerkt die Entlastungsstunden für die Teilnehmer am Studium und dann die finanziellen Mittel für den Studiengang gestrichen. Der Studiengang war somit tot. Eine Chance, schon früh in der Schule durch geeignete pädagogische Gestaltung den betroffenen Jugendlichen eine faire Chance zur Gestaltung ihrer Lebensplanung einzuräumen, war vertan – bis heute. Die Stimmungsmache durch Rufe von Merz und Söder sind schlichtweg verlogen. Hier geht nur die Saat von einer völlig verfehlten konservativen Politik auf.
Schreiben eines sehr bekannten Darmstädter Bürgers. Name wurde unkenntlich gemacht01.02.2023
Meine Antwort auf das Schreiben
Sehr geehrter Herr XXX
haben Sie vielen Dank für Ihren Brief, den ich mit großer Aufmerksamkeit gelesen habe.
Erlauben Sie mir bitte, ein paar Zusatzinformationen zu dem von Ihnen gelesenen Leserbrief darzustellen:
Zunächst zu mir: Ich habe an der TU-Darmstadt Elektrotechnik und Lehramt an Beruflichen Schulen studiert. Bin sehr früh in die Lehrerausbildung gekommen und habe ein Berufsleben lang sowohl als Fachleiter an einem Studienseminar als auch als Lehrbeauftragter an der TU-Darmstadt „Humanistische Pädagogiken“ gelehrt. Um meine Fachkompetenz zu erhalten, bin ich einmal wöchentlich in eine Berufsschule als Lehrkraft gegangen und habe in „extrem schwierigen“ Klassen ganztags unterrichtet.
Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelte ich einen neuen pädagogischen Ansatz speziell für gesellschaftlich benachteiligte Schüler, das Pädagogische Psychodrama, und habe die Erkenntnisse im Rahmen einer Dissertation verifiziert (Das Pädagogische Psychodrama in Besonderen Bildungsgängen).
Der erwähnte viersemestrige Ergänzungsstudiengang an der TU-Darmstadt ist aus einer Initiative von mir und einem Kollegen hervorgegangen. Sowohl die TU als auch das Hessische Kultusministerium (SPD) haben das Vorhaben sofort begrüßt, gab es doch in der pädagogischen Welt noch keine für gesellschaftlich benachteiligte Schüler spezielle Pädagogik. In dieser Zeit gab es auch den bekannten „Hilferuf“ der Rütli-Schule (hoher Anteil an ausländischen - und Migrationskindern) in Berlin, den unterrichtenden Lehrern endlich eine geeignete Pädagogik an die Hand zu geben, die das Arbeiten mit den Schülern erst ermögliche. Ich selbst lehrte dann auch in dem oben erwähnten Ergänzungsstudiengang und nahm auch die Prüfungen ab. Durch das Ablegen einer Prüfung erwarben die Teilnehmer eine Lehrbefähigung im Bereich Sonderpädagogik.
Dieser Studiengang wurde von sehr vielen Lehrerinnen und Lehrern aus ganz Hessen besucht. Das bezeichnete ich im Leserbrief als einen Riesenerfolg.
Unser jetziges Schulsystem hat seine Wurzeln im Jahr 1792. Wilhelm von Humboldt führte damals das dreigliedrige Schulsystem in Preußen ein. Im Prinzip hat sich daran bis heute nichts geändert und Frau Karin Wolff meinte sogar „das System habe sich bewährt“. Es gibt nichts in Deutschland, was so sehr einer Reform bedarf, wie das deutsche Schulsystem. Das föderalistische System fördert die Kleinstaaterei (Bayern!) und jeder Reformversuch ist von der CDU/CSU im Keime erstickt worden. Mit diesem Thema lässt sich hervorragend Wahlkampf machen.
Die alle vier Jahre erscheinende Shell-Jugendstudie zeigt jedes Mal wieder auf, dass zwischen der Einkommenssituation der Eltern und der sozialen Stigmatisierung ihrer Kinder eine eklatante Interdependenz besteht. Das gibt es in keinem Land der Welt mit einem geordneten Schulsystem. Bei uns werden die intellektuellen Fähigkeiten von Kindern gar nicht erkannt, weil das Schulsystem das nicht zulässt. Wir vergeuden dringend benötigte Ressourcen, weil es tief in unserer Gesellschaft drinsteckt, dass von einkommensschwachen Eltern und Eltern mit Migrationshintergrund ja auch keine intelligenten Kinder kommen können. Ein fataler Irrtum.
Irgendwann merkt solch junger Mensch an sich selbst, dass sich bisher niemand für seine Fähigkeiten und Kompetenzen interessiert hat und er deshalb auch von keiner Seite Förderung erfahren wird. Die Eltern sind meistens überfordert und die Schule leistet das auch nicht bei einer Klassenstärke von 35 Schülern und teilweise immer noch 45-Minuten-Unterricht. Da geht gar nichts außer Frust bei Schülern und Lehrern.
Sehr geehrter Herr XXX , wie würden Sie als 20jähriger reagieren, wenn sie immer wieder feststellen, nur weil sie zu viele „ü“ in ihrem Namen haben, dass Sie um Ihre Zukunft betrogen wurden? Sie solidarisieren sich mit ebenso Betroffenen und reagieren mit Gewalt auf die Gesellschaft. Ich schreibe bewusst reagieren, denn agiert hat nach den Erfahrungen der Jugendlichen in ihrem bisherigen Leben unsere Gesellschaft. Gewalt ist hier eine Form von Antwort!
Viele Ihrer Ausführungen sind je nach Betrachtungsweise nachzuvollziehen. Sie beschreiben aber nur den aktuellen Augenblick, der von der Politik weidlich ausgenutzt wird. Das ist purer Populismus, wie gerade konservative Parteien argumentieren.
Alles das könnte man verhindern, wenn früh genug, also auch schon im Kindergarten und dann in der Schule mit geeigneten Programmen Chancengleichheit garantiert wird. Für alle, arm oder reich, schwarz oder weiß, Deutscher oder Nichtdeutscher. Hier würden die Wurzeln gelegt um das zu verhindern, was Sie, Herr XXX , alles aufgezählt haben.
So hilft es wenig, wenn da erste brauchbare Ansätze, wie z.B. das oben beschriebene Ergänzungsstudium, von der CDU ausgeblutet werden, um dann von der gleichen Partei die Folgen dieser Politik im Wahlkampf ausgenutzt werden. Das, sehr geehrter Herr XXX , nenne ich verlogen.
Schauen Sie bitte einmal auf meiner Webseite „www.dr-pomowski.de“ unter der Rubrik Arbeitsschwerpunkte hinein (bitte scrollen Sie ganz runter). Eine Rezension und ein Artikel aus dem Darmstädte Echo sind dort u.a. zu finden.
Vielleicht konnte ich Sie mit meinen Zeilen davon überzeugen, dass ich wahrlich kein „verbaler Randalierer“ bin. Vielleicht konnte ich Sie sogar dazu sensibilisieren, darüber nachzudenken, dass alle Ihre, für mich nachvollziehbaren, Ausführungen bezüglich der Zustände in der Silvesternacht ihre tieferen Ursachen haben und wir beim Zeigen mit dem Zeigefinger auf die "bösen Randalierer" immer noch drei Finger in unsere eigene Richtung zeigen.
Ich danke für Ihre Geduld.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Wolfgang Pomowski
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Zuletzt aktualisiert am Sonntag, den 26. Februar 2023 um 22:33 Uhr |